Rosl Heilbrunner

Den Holocaust mit einer neuen Identität überleben: In den ersten Jahren des Franquismus in Spanien, im Schatten der Verfolgung durch die Gestapo, versuchte Rosl Heilbrunner, zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern, sich mit einer neuen Identität zu retten.

Ihre Geschichte und Fotos Zusammenfassung Gesamtes Interview

Inhaltsverzeichnis

Kindheit

Zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 10. Mai 1912, wurde in Freiburg, der Hauptstadt des Schwarzwalds, ein blondes, grauäugiges Mädchen namens Rosl Heilbrunner geboren. Sie war das erste Kind von Eduard und Lina Heilbrunner, zwei voll assimilierten deutschen Jüdinnen*Juden, die ein Geschäft für den Verkauf und Vertrieb von Rohstoffen betrieben. Zehn Jahre später, noch immer unter den verheerenden Folgen des Ersten Weltkriegs leidend, wurde Julius, der jüngere der beiden Brüder, geboren.

Die Wohnung der Familie befand sich im ersten Stock der Moltkestraße 40 in der Freiburger Altstadt, nicht weit von der alten Synagoge entfernt. Dort verbrachte Rosl die ersten Jahre seines Lebens, eine glückliche und erfolgreiche Kindheit, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs von Ungewissheit überschattet wurde. Jahre später wird Rosl mit einem Lächeln im Gesicht auf diese Jahre zurückblicken, auf seine dauerhaften Freundschaften in der Schule, seine Ausflüge in die Berge des Schwarzwalds, seine Spaziergänge durch Freiburg, seine regelmäßigen Besuche bei seinen Großeltern mütterlicherseits, der Familie Levi, die in Altdorf lebte.

Rosl Heilbrunner in der Grundschule.

1919

In dieser Zeit vor der Katastrophe, in der Freiheit und Toleranz herrschten, schrieb sich die junge Rosl Heilbrunner, nachdem sie die Grundschule an einer koedukativen Mädchenschule und das Gymnasium an der Höheren Töchterschule hinter sich gelassen hatte, an der renommierten Handelsschule ein, um internationale Sekretariatsstudien zu absolvieren. Nach Abschluss sie Studiums wurde sie 1930, im Alter von achtzehn Jahren, Assistentin des Rechtsanwalts Norbert Wolf, der zu dieser Zeit bei der Staatsanwaltschaft Freiburg tätig war. In diesen drei Jahren, von 1930 bis 1933, erlebte Rosl eine der besten Perioden seines Lebens, machte das Beste daraus und baute sich eine Welt auf, in der alle ihre Träume noch möglich waren. Diese heile Welt brach jedoch zusammen, als am 30. Januar 1933 Adolf Hitler, der Führer der Nazipartei, das Amt des Bundeskanzlers übernahm.

Rosl Heilbrunner im Urlaub.

1926

 

Aufkommen des Nationalsozialismus

Im Dezember 1932 lebten in Freiburg 98.752 Menschen, davon 1.138 Juden, etwa 1,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Kaum einen Monat später, mit der Machtübernahme durch die NSDAP, war es mit dem Zusammenleben vorbei, und es begann ein Prozess, der kein Zurück mehr zuließ und die Feinde des neuen Regimes - Jüdinnen*Juden, Kommunist*innen, Anarchist*innen, Homosexuelle, Liberale usw. - mit Blut und Feuer brandmarkte. Am 6. März beispielsweise hissten exaltierte NSDAP-Aktivisten ohne Zustimmung des Bürgermeisters gewaltsam eine Hakenkreuzfahne auf dem Balkon des Rathauses. Am Ende des Monats begann die SA[1] eine Aktion gegen  Kaufhäuser in Freiburg. An jenem verhängnisvollen Tag, dem 1. April 1933, versammelten sich mehrere tausend Demonstranten in der Kaiserstraße, der Haupteinkaufsstraße, und forderten lautstark, dass niemand in jüdischen Geschäften einkaufen dürfe. Der lange und entscheidende Prozess der Entrechtung und Verdrängung der jüdischen Bürger aus dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben begann.

Rosl Heilbrunner beim Skifahren am Felberg.

1932

Am nächsten Tag veröffentlichten die Freiburger Lokalzeitungen Listen mit Namen und Adressen von Geschäften, die nicht mehr besucht werden durften, darunter auch das Geschäft Heilbrunner. Acht Tage später musste Oberbürgermeister Bender nach einer Hetzkampagne der nationalsozialistisch orientierten Zeitung Der Alemanne zurücktreten. Jüdische Geschäfte waren zunehmend der Verfolgung ausgesetzt und erlitten infolgedessen drastische Umsatzeinbußen. In diesem Zusammenhang beschleunigte sich der Prozess der "Arisierung"[2] des öffentlichen Dienstes.

In diesem Zusammenhang beschleunigte sich die "Arisierung" des öffentlichen Dienstes, die den Ausschluss jüdischer Bürger nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze von 1935[3] einleitete. Norbert Wolf, Jurist bei der Staatsanwaltschaft Freiburg, verlor seinen Arbeitsplatz und mit ihm seine Assistentin Rosl Heilbrunner. In diesen schwierigen Monaten wurden viele Freiburger Jüdinnen*Juden von einem Tag auf den anderen aus den Sport- und Kulturvereinen der Stadt ausgeschlossen, aus dem Gesangverein, dem Schwarzwaldverein, der Großen Karnevalsgesellschaft, der Sporthalle, erc. In der Presse als "Unerwünschte" gebrandmarkt, bekamen sie die Folgen dieser willkürlichen Diskriminierung zu spüren. In diesem Kontext beschließt die stigmatisierte und arbeitslose Rosl Heilbrunner, Deutschland zu verlassen und nach León in Spanien zu gehen, wo sie als Gouvernante bei einer wohlhabenden Familie arbeitet.

 

1933: Spanien

Familienfotos zufolge ließ sich Rosl im Juli 1933 in León, Spanien, nieder.

Rosl Heilbrunner arbeitet als Au Pair.

1934

Sie kam als Gouvernante zu einer wohlhabenden Familie. Anfang 1935, wer weiß warum, beschloss sie, nach Barcelona zu ziehen. Auf den Fotos, die uns zur Verfügung stehen, wirkt sie elegant, modern gekleidet, sehr deutsch, sie posiert im Pueblo Español, an der Costa Brava, in Blanes, Tossa de Mar, sie wirkt glücklich, unbeschwert, bereit, die Welt zu erobern. Damals, in diesem republikanischen Barcelona, offen und voller Möglichkeiten, lernte sie ihren zukünftigen Lebenspartner kennen, Kurt Sontheimer, einen deutsch-jüdischen Mann aus Nürnberg, der sich 1929 in Barcelona niedergelassen hatte, um eine Filiale der Porzellanfabrik Lehmann zu gründen.

Dory Sontheimer, Tochter von Rosl Heilbrunner und Kurt Sontheimer:

"Nach diesem Treffen in Sant Pol beschlossen Kurt und Rosl, sich kennen zu lernen. Sie machten lange Spaziergänge durch die Straßen Barcelonas, jenes Barcelona des Jahres 1935, konvulsivisch, schwierig, republikanisch und immer noch säkular. Sie hatten genügend Zeit, um über die Situation zu sprechen, die sie und ihre Großfamilien durchlebten. In Freiburg weigerten sich viele Nachbarn, die Eltern meiner Mutter zu grüßen. Rosls jüngerer Bruder Julius, erst dreizehn Jahre alt, musste diese Demütigung ertragen. Ich weiß, dass meine Mutter ihn immer vermisst hat. Als ich Jahre später von der Beziehung der beiden erfuhr, war ich erstaunt, wie sehr meine Mutter ihren kleinen Bruder, ihr einziges Geschwisterchen, beschützte".

Rosl Heilbrunner im Schwimmbad.

1934

Während des Boykotts jüdischer Geschäfte, angeheizt durch die Lautsprecher der reaktionären spanischen Presse, lassen sich Rosl und Kurt von der Illusion des Verliebtseins mitreißen: Sie machen Ausflüge nach Collserola, Spaziergänge an den Stränden der Küste Barcelonas, Caldetes, Sant Pol de Mar, Masnou, usw., sie gehen ins Kino, ins Theater, in den Palau de la Música, allein und in Begleitung neuer Freunde. Auf den Fotos sehen sie sehr glücklich aus, jung und strahlend, weit weg von den Bedrohungen, die sie umgeben, und sie sprechen sogar davon, zu heiraten. Doch trotz der unbändigen Kraft dieser flüchtigen Verliebtheit können sie nicht umhin, sich über die Geschehnisse in Deutschland Sorgen zu machen.

Rosa Heilbrunner mit Kurt Sontheimer, Costa Brava, Spanien.

1936

 

Spanischer Bürgerkrieg

Am 18. Juli 1936 kommt es in Spanien zu einem Militärputsch mit dem Ziel, die rechtmäßige Ordnung der Zweiten Republik zu stürzen. Der Putsch scheiterte und löste einen blutigen Bürgerkrieg aus, der drei Jahre dauerte.

Trotz aller Unannehmlichkeiten, die der Krieg mit sich bringt, und trotz der Tatsache, dass das Familienunternehmen, die Lehmann-Filiale, auf Befehl des Milizkomitees[4] kollektiviert wird, besteht Kurts und Rosens Hauptanliegen darin, einen Ausweg aus dem Krieg zu finden.

Die Hauptsorgen von Kurt und Rosl kamen aus Deutschland. Bis Ende 1937 waren etwa 80 % der über 200 in Freiburg ansässigen jüdischen Betriebe verkauft oder aufgelöst worden. Lina hatte dies in einem Brief im August 1938 angeprangert:

"Liebe Kinder,

[...] Hier geht das Leben mit Schwierigkeiten weiter. Das Unternehmen ist praktisch tot, und wir werden gezwungen sein, es zu liquidieren oder zu verkaufen. Aufgrund der diesjährigen Bilanzen, mit diesen Steuern, die sie uns haben zahlen lassen, werden sie uns einen symbolischen Wert geben, um die Übertragung zu rechtfertigen, den wir verwenden müssen, wenn wir das Visum für Julius bekommen [...]. Unsere Visa, so sehe ich, werden unmöglich zu bekommen sein. Wenn Julius es schafft, nach Amerika zu gehen, kann er vielleicht von dort aus etwas anderes machen. Aber ich habe Angst, denn er ist sehr jung und allein in diesem Land mit all der Freiheit und niemandem, der ihn berät und ihm beisteht. .... Haben Sie das neue Dekret gelesen? Das ist wirklich Wahnsinn."

Die Hochzeit von Rosl Heilbrunner.

1936

Als Lina in dem Brief fragte, ob sie die neue Verordnung gelesen hätten, bezog sie sich höchstwahrscheinlich auf eine Verordnung, in der ein drei Tage zuvor, am 17. August, unterzeichnetes Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen angekündigt wurde, das alle Juden verpflichtete, die Namen Sara für Frauen und Israel für Männer anzunehmen. Von da an hießen Rosls Eltern in den Augen der deutschen Behörden Eduard Israel und Lina Sara.  

Monate später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938,[5] wurde die Synagoge in Freiburg, Deutschland, wie an so vielen anderen Orten in Deutschland, geschlossen.

Die Freiburger Synagoge fiel dem Wüten der Nazis zum Opfer und wurde in Schutt und Asche gelegt. In derselben Nacht wurden 137 jüdische Männer verhaftet, viele von ihnen brutal misshandelt und anschließend ins Gefängnis gebracht. Noch am selben Tag schrieb Lina einen Brief an ihre Tochter Rosl, in dem sie über das Geschehene berichtete:

"Die Ereignisse von Mittwochabend und Mittwochmorgen lassen sich kaum in Worte fassen. Es war furchtbar. Eine Nacht des Terrors [...] Gott sei Dank sind sie nicht in unser Haus eingebrochen. [...] Wir verlassen kaum noch das Haus. Die Firma ist geschlossen. Unsere finanzielle Situation ist sehr schlecht [...]".

Am 26. Januar 1939 marschierten Francos Truppen in Barcelona ein, besetzten die Stadt und errichteten ein neues Regime. Von diesem Zeitpunkt an bekamen die noch in der Stadt lebenden jüdischen Flüchtlinge den Druck zu spüren. Unter dem wachsamen Auge von Francos Polizei, die mit der Gestapo zusammenarbeitete, versuchten sie, unbemerkt zu bleiben. Viele, die meisten von ihnen staatenlos, wurden verhaftet und in die Konzentrationslager Francos geschickt. Kurt wurde zweimal zum deutschen Konsulat in Barcelona gerufen, ging aber nicht hin. Mehrere jüdische Bekannte sollten an die Grenze deportiert werden, nachdem er dem Ruf gefolgt war. Vor diesem Hintergrund extremer Widrigkeiten wurde Max Sontheimer, Kurts Vater, Mehrheitsaktionär von Lemanos, S.A., der Tochtergesellschaft der Lehmann-Fabrik in Barcelona, von einem Minderheitsaktionär, dem Deutschen Óscar Stettiner, aus dem Verwaltungsrat des Unternehmens entfernt, der schließlich mit Unterstützung des neuen Regimes die Kontrolle über das Unternehmen übernahm. Am 11. Mai wurde das neue, von Minister Gómez Jordana unterzeichnete Grenzübertrittsgesetz verabschiedet, das Juden den Grenzübertritt ohne Bürgschaft untersagte. Am 18. August 1939 begannen die Heilbrunners in dem Wissen, was auf sie zukommen würde, und in der dringenden Furcht, verhaftet und der Gestapo übergeben zu werden, zum Katholizismus zu konvertieren.

 

GM II: Die Rettung der Familie

Dory:

"Barcelona, 1940. Es gab keinen Krieg mehr [Spanischer Bürgerkrieg], aber es gab auch keinen Frieden. Zumindest in den Herzen von Kurt und Rosl, die alle Ängste und Sorgen um ihre Familie auf ihren Schultern trugen. Trotz allem kämpften sie weiter für ihr noch junges Unternehmen [Casa Pitón]. Meine Mutter, die nicht mehr in den SEPU-Lagern arbeitete, half meinem Vater im Büro, während er in Spanien auf der Suche nach einer Vertretung unterwegs war.

Am 25. April 1940 schrieb Lina in großer Sorge und in dem Wunsch, Deutschland zu verlassen, einen Brief an Rosl und Kurt, in dem sie ihren Kampf um Visa schilderte, die nie eintrafen:

"Wir haben nach den Visa gefragt, aber die Antwort ist negativ, bis wir die Pässe haben [...]. Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf, ich denke an so viele Dinge, und ich denke auch, dass es für Sie nicht leicht sein muss, aber das Wichtigste ist, dass Sie gesund sind".

Am 23. Oktober 1940, demselben Tag, an dem Franco Hitler in Hendaye traf, wurden die letzten in Freiburg lebenden Juden in das Konzentrationslager Gurs in Südwestfrankreich gebracht. Vier Tage später erhielten Rosl und Kurt die erste Nachricht von ihrer Familie in Form eines Telegramms. Zwei Tage später schrieb Lina aus der Baracke 16:

"Liebe Kinder:

Ich nehme an, ihr seid durch das Telegramm erschüttert worden und wisst noch nicht, welche Veränderungen eingetreten sind. Am 23. Oktober kam in wenigen Stunden der Befehl, dass wir unsere Häuser verlassen sollten, und ihr könnt euch nicht vorstellen, was das bedeutet. Wir durften nur das Nötigste mitnehmen, aber in der ganzen Aufregung haben wir nicht einmal das mitgenommen. Am Mittwochabend um zehn Uhr wurden wir in einem Sonderzug transportiert, ohne zu wissen, wohin."

Während seine Eltern um ein Visum für die Freiheit kämpften, versuchte Rosl, sich in die ultrakatholische Gesellschaft Francos einzufügen, seine jüdische Identität zu verschleiern, jedes Zeichen seiner Vergangenheit zu verbergen, nicht aufzufallen, sonntags zur Messe zu gehen, eine neue Welt aufzubauen, katholisch und streng. Rosl lebte zwei Leben, eines außerhalb des Hauses, wo sie sich als typisch katholische Frau unauffällig verhielt, ohne Verdacht zu erregen, und das andere in der Privatsphäre des Hauses, wo sie sich mit Leib und Seele dafür einsetzte, ihre Eltern aus der Gefangenschaft zu befreien, koste es, was es wolle.    

Einen Monat später, am 15. August, schreibt Lina einen weiteren Brief aus Marseille: 

"Meine liebe Rosl, mein lieber Conrad [Kurt]! Inmitten dieser dichten Atmosphäre, die mich umgibt, versuche ich, ein paar Augenblicke der Ablenkung zu finden und mit dir zu sprechen [...] Was würde ich geben, um bei dir zu sein. Mein einziger Wunsch war es, bei meinen Kindern zu sein, aber es scheint, dass dies nicht möglich sein wird. Selbst wenn ich jetzt ein spanisches Visum bekäme, wäre da nichts zu machen. Der Kanzler gibt keine Formulare aus. Der Anblick der Menschen, die in diesen Güterwaggons von hier wegfahren, ist unbeschreiblich [...]."

Dory:

"Ein paar Tage später wurde Lina mit ihrem Mann ins Camp Les Milles verlegt.[6]

Dort war der Bahnhof, wo die Waggons abfuhren, die sie zu einem unbekannten Ziel bringen sollten. Am 30. August würde sie ihren letzten Brief schreiben."

Der Brief von Rosl an Lina. Montag, 1. Februar.

1942

Am 7. September 1942 erreichten Eduard und Lina schließlich das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, nachdem sie mehrere Tage lang in einen Eisenbahnwaggon gepfercht worden waren. Dort wurden sie ermordet. Am Tag zuvor hatte Rosl ihnen einen Brief geschrieben, den sie nie lesen sollten:

"Liebe Mutter und lieber Vater:

Seit eurem letzten Brief vom 30. August haben wir nichts mehr von euch gehört und sind, wie Sie verstehen können, sehr besorgt. Ich möchte euch mitteilen, dass Julius euren Brief vom 3. August erhalten hat und dass er in derselben Woche nach Washington fährt, um zu versuchen, ein neues Visum zu erhalten. Es ist also zu hoffen, dass er Erfolg haben wird, und wir müssen es hoffen. 

Wir haben mit einem Mann gesprochen, der sich in diesen Dingen sehr gut auskennt, und er hat uns gesagt, dass ihr, wenn alles klappt, das Visum sehr bald erhalten werdet. Ich erzähle euch dies alles, damit ihr es vielleicht mitteilen könnt. Wir werden euch heute ein Telegramm schicken, damit ihr über alles informiert seid. Ich hoffe, ihr habt unseren letzten Brief erhalten, das war's für heute."

In einer atemlosen Atmosphäre, ohne Nachricht von Lina und Eduard und aus Angst, jeden Moment von Francos Polizei verhaftet zu werden, änderten die Sontheimers am 10. November 1943 offiziell ihren Nachnamen und wurden zur Familie Sont. Sie tilgen die Spuren der Vergangenheit.

 

Franquismus

Dory:

"Ich wurde in Barcelona geboren, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich erinnere mich an eine glückliche Kindheit und Jugendzeit. Wir waren eine sehr kleine Sippe, was ich in diesem Spanien der Großfamilien nur schwer verstehen konnte. Wenn ich nach dem Grund fragte, war die lakonische Antwort immer dieselbe: 'Sie sind im Krieg gefallen', einfach so.

Wir hielten uns an die von der Kirche und dem Franco-Regime auferlegten religiösen Regeln. Wir gingen sonntags zur Messe und nahmen an den wichtigsten religiösen Festen teil. Ich hatte nie das Gefühl, dass man mir etwas verheimlichte, aber ich hatte die Weitsicht zu erkennen, dass es zu Hause um menschliche Werte, Ethik und Moral ging. Es war verboten, über Politik zu sprechen. Im Laufe der Jahre traten die religiösen Verpflichtungen in den Hintergrund.

Dory Sontheimer's Erstkommunion, Rosl's Tochter.

1954

Während sie diesen unsichtbaren Rucksack voller Angst und Ohnmacht trug, lebte meine Mutter weiter und klammerte sich mit aller Kraft an ihre neue Identität. Sie ging mit ihren Freunden aus, genoss die Mittwochs-Bridge-Spiele, die Abende im Palau de la Música und im Liceo, die Zusammenkünfte in ihrem Haus, als gute Gastgeberin liebte sie es, den Tisch zu decken, ihre deutschen Gerichte zu kochen, vor allem das Gebäck, Marmorkuchen, Apfelkuchen, usw., das Leben musste weitergehen. Wie könnten wir unsere Sommer an der Costa Brava vergessen, in Sant Feliu de Guixols, in unserer Wohnung an der Rambla Vidal.

Als ich 18 Jahre alt war, hielten meine Eltern es für an der Zeit, mir von der jüdischen Herkunft der Familie zu erzählen, und ich war sehr erleichtert, als ich erfuhr, dass wir keine Nazi-Vorfahren hatten. Ich verstand nicht, warum sie so geheimnisvoll waren und warum sie Angst vor der Möglichkeit hatten, dass ich es anderen erzählen könnte. Man bat mich um Stillschweigen, was ich respektierte.

Mein Vater starb 1984 an einem Herzinfarkt. Von diesem Moment an begann meine Mutter körperlich und psychisch zusammenzubrechen. Von da an sah ich die Last, die sie jahrelang auf ihren Schultern getragen hatte, eine Last, die von einer schmerzhaften Geschichte sprach, die sie nie losgelassen und nur mit ihrem Mann geteilt hatte. In den letzten Jahren ihres Lebens erlitt sie eine Reihe von Schlaganfällen, die sie fast im Koma hielten, eine Zeit, in der die Geister der Vergangenheit unaufhaltsam an die Oberfläche kamen. Alles, was sie erlitten hatte, all die Kontrolle, die sie über ihre jüdische Identität ausgeübt hatte, verschwand völlig und machte den Weg frei für diese Vergangenheit. Ich erinnere mich genau an die Momente der Angst, in denen sie in ihrer Muttersprache schrie: "Die Gestapo wird kommen und uns mitnehmen!

Nach seinem Tod im Jahr 2002 tauchten auf dem Dachboden seines Hauses versiegelte Kisten auf, die ich nie zuvor gesehen hatte, und als ich sie öffnete, verstand ich sofort, dass der Inhalt dieser sieben Kisten in direktem Zusammenhang mit dem enormen Gewicht stand, das er jahrelang getragen hatte.

Jetzt kann ich vieles verstehen: warum mein Vater darum bat, seinen Nachnamen von Sontheimer in Sont zu ändern, was ich jetzt rückgängig gemacht habe, warum meine Mutter ihren zweiten Nachnamen von Levy in Ley änderte, warum sie so schweigsam war, und die Angst, die alles umgab.

Ich denke sehr oft an sie, an die Stärke, mit der sie dem Leben begegnete, an ihre Fähigkeit zu überleben und vor allem daran, wie es gewesen sein muss, ihre Eltern nicht retten zu können, ein Trauma, von dem sie sich, da bin ich mir sicher, nie erholt hat. Sie hat mir ein beeindruckendes Vermächtnis und einzigartige Lektionen hinterlassen.

Ich danke dir, Mama.  DEP. NIE WIEDER.

  • [1]Die Sturmabteilung (SA) war eine 1921 auf Befehl Adolf Hitlers gegründete paramilitärische nationalsozialistische Kampforganisation, die als Stoßtrupp eine entscheidende Rolle beim Aufstieg der NSDAP spielte. Aufgrund ihrer braunen Uniformen wurde die SA später auch als "Braunhemden" bezeichnet.
  • [2]eine erste Phase, in der der Raub an den jüdischen Opfern unter dem Deckmantel der Legalität verborgen wurde, und eine zweite Phase, in der das Eigentum offener beschlagnahmt wurde. In beiden Fällen entsprach die Arisierung der NS-Politik und wurde von der deutschen Rechts- und Finanzbürokratie definiert, unterstützt und durchgesetzt.
  • [3]a) das Reichsbürgergesetz und b) das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre. Diese Gesetze wurden informell als die Nürnberger Gesetze oder Nürnberger Rassengesetze bekannt. Der Grund dafür ist, dass sie erstmals auf einer Kundgebung der NSDAP in der deutschen Stadt Nürnberg verkündet wurden. Die Nürnberger Gesetze veränderten das Alltagsleben der Jüd*innen in Deutschland, indem sie Jüd*innen rechtlich von ihren nichtjüdischen Nachbar*innen unterschieden.
  • [4]Das Zentralkomitee der antifaschistischen Milizen Kataloniens war ein Verwaltungsorgan, das am 21. Juli 1936 vom Präsidenten der katalanischen Regierung, Lluís Companys, auf Druck der Anarchosyndikalisten der Nationalen Konföderation der Arbeit (CNT) und der Iberischen Anarchistischen Föderation (FAI) gegründet wurde, die den Kampf der Arbeiter*innen gegen den Militäraufstand vom Juli 1936 in Barcelona anführten. Eine ihrer Hauptaufgaben war die sozialistische Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen Kataloniens.
  • [5]Die Novemberpogrome (auch bekannt als "Reichskristallnacht") waren ein Pogrom gegen Jüd*innen, der am 9. und 10. November 1938 von der paramilitärischen Sturmabteilung (SA) und der Schutzstaffel (SS) der NSDAP unter Beteiligung der Hitlerjugend und deutscher Zivilist*innen in ganz Nazi-Deutschland durchgeführt wurde. Die deutschen Behörden schauten zu, ohne einzugreifen. Der Name "Kristallnacht" stammt von den Glasscherben, die nach dem Einschlagen der Fenster von Geschäften, Gebäuden und Synagogen in jüdischem Besitz auf den Straßen lagen.
  • [6]Das Konzentrationslager Camp des Milles wurde von den Nazis im September 1939 in einer stillgelegten Fliesenfabrik im Dorf Milles bei Aix-en-Provence eingerichtet. Im August und September 1942 wurde es zum "Vorzimmer" von Auschwitz, von wo aus Tausende von jüdischen Männern, Frauen und Kindern deportiert wurden.

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