Rosa Rosenstein

Rosa Rosenstein wurde im Jahr 1907 als Tochter einer jüdischen Familie in Berlin geboren. Rosa arbeitete in der Schneiderei ihres Vaters. Sie war verheiratet und hatte zwei Kinder. Gemeinsam mit ihrer Familie floh sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung nach Budapest, wo sie den Krieg überlebte.

Ihre Geschichte und Fotos Zusammenfassung Gesamtes Interview

Inhaltsverzeichnis

 

Rosa Rosenstein mit ihren Geschwistern Betty, Erna, Cilly und Anschel

1919

Kindheit

Meine Großeltern und meine Eltern wurden in Galizien geboren. Meine Familie väterlicherseits hieß Braw. Meine Großmutter, Rivka Finder, geborene Braw, starb vor meiner Geburt. Ich wurde nach ihr benannt, Rosa auf Deutsch und Rivka auf Jiddisch. Mein Vater war Schneider und arbeitete von zu Hause aus. In späteren Jahren hatten wir ein Groß- und Einzelhandelsgeschäft für Herrenbekleidung. Mein Vater wurde während des Ersten Weltkriegs nicht zur Armee eingezogen; er wurde während des Ersten Weltkriegs viermal ärztlich untersucht, aber jedes Mal wurde er zurückgestellt, weil er schreckliche Krampfadern hatte. Und das machte ihn zum Glücksfall. Er war zu Hause und konnte sich um uns kümmern. Er fuhr zu den Bauern und besorgte Essen für uns, damit wir nicht verhungerten. Meine Mutter war auch gut in allem. Wir mussten nie hungern. 

Meine Eltern waren Ausländer in Deutschland. Ich hatte drei Nationalitäten, aber ich war nie Deutsche. Zu der Zeit, als ich in Berlin geboren wurde, war ich Österreicherin. Ich wurde 1907 geboren, aber Polen wurde erst 1922 gegründet.[1] Also war ich Polin, als Unterhaltsberechtigte meiner Eltern, da ich noch minderjährig war. Dann habe ich einen Ungarn geheiratet, also wurde ich Ungarin, und nach dem Krieg habe ich einen Österreicher geheiratet, also war ich wieder Österreicherin.

Meine Mutter war sehr lange mit meinem Vater verlobt. Es war eine arrangierte Ehe. Nach mir kam 1909 meine Schwester Betty. Erna, geboren 1911, war die dritte, und Cilly, geboren 1913, war die jüngste Schwester. Mein Bruder Arthur, Anschel auf Jiddisch, war der Jüngste. Wir fünf Geschwister stehen uns alle sehr nahe. Sicher, wir hatten alle unterschiedliche Meinungen, aber wir haben uns nie wirklich gestritten. Und das kommt nur in wenigen Familien vor.

Rosa Rosenstein ist mit ihren Geschwistern Betty, Erna, Cilly und Anschel in Bad Buckow

1927

In Berlin wohnten wir in einer großen Vier-Zimmer-Wohnung in der Templiner Straße.[2] Die Toilette war in der Wohnung und wir hatten auch ein Badezimmer. Es war ein sehr primitives Bad, aber es hatte eine Badewanne und einen großen Ofen, der mit Holz beheizt wurde, so dass wir heißes Wasser für ein Bad haben konnten. Wir vier Schwestern teilten uns ein Zimmer. Bei uns zu Hause war alles koscher. Blau war zum Beispiel für Milchprodukte, für die hatten wir blau karierte Geschirrtücher. Und die rot-karierten waren für Fleischprodukte. Wir hatten auch getrenntes Geschirr für Fleisch- und Milchprodukte, das getrennt gespült wurde. Das war eine sehr schöne Sache in unserem Haus. Meine Eltern gingen in jüdische Gebetshäuser, die sich in einem großen Hinterhof befanden.

Ich habe mich überhaupt nicht um Kleidung gekümmert. Zu Rosh HaShanah[3] bekamen wir immer Wintersachen. Das waren beigefarbene Mäntel, von der Stange. Natürlich habe ich sofort die Seite zerrissen. Sie wurde dann zwar genäht und gestopft, aber trotzdem sah sie nach einer Weile schäbig aus. Dann bekamen wir wieder neue Mäntel, aber da trug ich schon den alten meiner Schwester, denn meiner war nicht mehr in Ordnung. Meine Mutter schimpfte mit mir. Sie sagte zu mir: 'Rosa, kannst du nicht wenigstens noch fünf Minuten vor dem Spiegel stehen?' Ich habe nicht darauf geachtet, wie meine Haare aussahen und was ich anhatte. Die Hauptsache war, dass der Rock weit genug war und die Schuhe nicht drückten, sodass ich bequem herumlaufen konnte.

Mein Vater bereitete unser Frühstück vor, das wir mit in die Schule nahmen. Wir hatten alles, weißt du. Wie du weißt, hat Berlin wunderschöne Seen. Am Mittwoch sind wir immer mit dem Paddelboot rausgefahren, und wir sind auch Kanu gefahren. Wir hatten leckeres Essen, haben das Beste gekauft. Es hat uns an nichts gefehlt. Mein Vater hat alles für seine Töchter getan. Meine Mutter war ein Bücherwurm, genau wie ich. Sie ging nur ein Jahr lang in Galizien zur Schule, während ihre sieben Brüder alle studierten. Großvater sagte immer, es reiche aus, wenn ein Mädchen seinen Namen schreiben könne und wisse, wie man Brot backt und Butter macht. Aber meine Mutter brachte sich selbst das Lesen und Schreiben bei. Wir hatten zu Hause eine richtige Bibliothek. Als wir nach Hitlers Machtergreifung emigrierten, blutete mir das Herz, denn wir mussten alle unsere Bücher zurücklassen.

Rosa Rosenstein auf einer Purim-Party

Ausbildung und Arbeit

Ich besuchte eine jüdische Mädchenschule. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt zu Christen. Meine Eltern auch nicht, nur geschäftlich, aber privat auch nicht. Ich hatte aber eine christliche Freundin, als ich jung war, sie wohnte im gleichen Haus, und ich bin mitgegangen, wenn sie zur Beichte ging.

Dann musste ich die Schule verlassen. Mir wurde gesagt, was ich zu tun hatte: Es wurde festgelegt, wie lange ich zur Schule gehen durfte und dann musste ich auf die Handelsakademie wechseln, weil mein Vater mich im Geschäft brauchte. Auf dieser Handelsakademie musste man in einem halben Jahr alles lernen: Schreibmaschinenschreiben, Stenografie, Buchhaltung, und das alles in einem hohen Tempo. Ich hatte Klassenkameradinnen, die 20 Jahre alt waren, während ich erst 15 war, aber ich war viel besser als die anderen. 

Im Geschäft meines Vaters haben wir selbst Konfektionskleidung für Männer hergestellt und verkauft. Eine Zeit lang hatten wir auch eigene Läden: einen in der Hermannstraße in Neukölln, den anderen in der Klosterstraße.[4] Damals kauften viele Leute auf Pump und zahlten in Raten, weil sie arm waren. Ich habe immer lange gearbeitet. Wenn man im Geschäft des Vaters arbeitet, kann man nicht einfach um 17 Uhr Feierabend machen. In der Werkstatt musste ich Knöpfe annähen, bei den Vorbereitungen für den Versand helfen und die Hausangestellten zum Bahnhof begleiten, wenn Pakete mit dem Zug verschickt wurden. Ich war nicht einmal bei der Krankenkasse angemeldet. Wäre ich es gewesen, würde ich heute eine andere Rente aus Deutschland bekommen. Meine Schwester Betty hingegen arbeitete bei der Staatsanwaltschaft und bekommt eine hohe Rente aus Deutschland.

Heirat

Bis zu meinem Hochzeitstag lebte ich zu Hause. Mein erster Mann war auch Schneider, aber vor allem war er Ungar. Oh, er war wirklich ein hübscher junger Mann! Ich arbeitete bei meinem Vater, in einem Fabrikgebäude mit großen Fenstern. Mein Schreibtisch stand direkt am Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine Fabrik für Herrenkonfektion, und dort saß dieser gutaussehende Mann an der Nähmaschine. Wir lächelten uns immer wieder an. Ich wusste nicht, wer er war, und er wusste nicht, wer ich war. Eines Tages kam ein Bote - damals gingen die Händler von Geschäft zu Geschäft - mit einer großen Schachtel voller Süßigkeiten und sagte: 'Das ist von dem jungen Mann von gegenüber.' So fing alles an. Ich nahm das Geschenk natürlich an und bedankte mich. Ich war noch keine 18, aber ich war glücklich, und warum auch nicht?

Eines Tages ging ich früher nach Hause. Ich war im Laden gewesen und bin über den Hackeschen Markt zu einer großen Buchhandlung in der Rosenthalerstraße gegangen. Ich stehe also da und schaue mir die Bücher an, und plötzlich höre ich eine Stimme hinter mir, die langsam sagt: 'Ist das nicht schön?' Ich drehe mich um, und da steht er. Er fragte, ob er mich nach Hause begleiten könne, da er den gleichen Weg habe. Also sagte ich: 'Wenn du willst.' Danach hat er mich manchmal auf meinem Weg begleitet, und dann hat er angefangen, mich einzuladen. Das war immer an einem Samstagabend, unter der Woche hatte man natürlich keine Zeit. Unser Treffpunkt war der U-Bahnhof Ecke Schönhauser Allee und Schwedterstraße. Ich zog mich an, machte mich fertig und ging zum Friseur. Meine Eltern wussten, dass ich ein Rendezvous hatte, und meine Mutter sagte zu mir: 'Los, beeil dich, du kommst viel zu spät.' Ich erwiderte: 'Wenn er wirklich interessiert ist, wird er warten.' Also ging ich zur U-Bahn-Station, und es war niemand da. Dann, nach etwa fünf Minuten, sah ich ihn kommen, völlig außer Atem. Was war passiert? Nun, ich habe mich für meine Verspätung entschuldigt. Er dachte aber, dass ich an der anderen Station warte, also musste er zur nächsten Station und zurück laufen. Wir gingen in ein Restaurant namens 'Schottenhaml', ein sehr elegantes Restaurant, aber ich war koscher. Er bestellte eine Fleischplatte, während ich Kaffee und Kuchen aß, denn ich aß kein treyfes[5] Essen. Ich kannte keine koscheren Restaurants, da meine Eltern nie in Restaurants gingen. 

Die Hochzeit von Rosa und Michi Rosenstein

1929

Nun, dann haben wir geheiratet. Ich habe auf dem Tempel in der Oranienburger Straße bestanden, weil es der schönste Tempel in Berlin war, und, wie man sagte, sogar der schönste in ganz Europa. Nach der Zeremonie gingen wir in einem Restaurant am Kupfergraben essen. Der Plan war, nach dem Essen zu tanzen, schließlich waren viele junge Leute da. Aber die Musik war furchtbar. Der Bruder meiner Freundin war ein wunderbarer Pianist und konnte alles auswendig spielen; er konnte auch ohne Noten spielen. Also setzte er sich ans Klavier und begann zu spielen, und dann konnten wir richtig tanzen.

Als unsere Tochter Bessy 1929 geboren wurde, waren mein Mann und ich beide noch sehr jung, aber zum Glück hatte ich meine Eltern, die uns halfen. 1933 kam meine zweite Tochter, Lilly, zur Welt. Und das wollte ich nicht, ich wollte nur ein Kind haben. Damals war es populär, nur ein Kind zu haben. Die Schwester meines Mannes wollte mir helfen. Sie sagte mir, ich solle Tee trinken, mich in heißes Wasser setzen und vom Tisch springen, aber nichts half. Schließlich erzählte ich meiner Mutter, dass ich schwanger war, und sie nahm kein Blatt vor den Mund: 'Was ist das? Tun Sie das nicht! Was ist ein weiteres Kind? Warum willst du es nicht haben? Der Altersunterschied ist doch genau richtig!' Aber das Schlimmste war, dass sie meiner Tochter davon erzählt hat, als sie schon erwachsen war. Und von da an hat mir meine Tochter immer gesagt: 'Du wolltest mich nicht haben.'

Verfolgung und Flucht

Meine Geschwister Erna, Betty und Anschi gingen Anfang der 1930er Jahre nach Palästina. Mein Vater wurde 1938, unmittelbar nach der Reichspogromnacht,[6] verhaftet und nach Polen deportiert.[7] Er durfte 10 Mark und eine kleine Aktentasche mitnehmen. Wir hatten noch Verwandte in Polen, und ich fungierte immer als Vermittlerin. Da ich mit einem Ungarn verheiratet war, hatte ich noch keine Angst. Ich organisierte mir ein Visum für Polen. Ich wollte meinen Vater sehen und ihm Geld bringen. Als ich vom Amt zurückkam, kam mir meine Mutter entgegen und sagte: 'Du brauchst nicht nach Polen zu reisen, Papa hat die Erlaubnis erhalten, mich abzuholen und wir werden gemeinsam nach Palästina ziehen.' Als mein Vater aus Polen zurückkam, begannen wir, alles zu packen. Meine jüngere Tochter sollte zu dieser Zeit eingeschult werden, sie war sechs Jahre alt. Mein Vater reiste schweren Herzens ab, weil ich mit meiner Familie zurückblieb. Es fiel ihm schwer, sich zu trennen. Er sagte: 'Es ist eine weinende Schande. Ich werde mein Kind zurücklassen.' Und er fügte hinzu: 'Ich werde nicht eher ruhen, bis ich es geschafft habe, dich dorthin zu bringen.' Meine Schwester Cilly ging 1939 mit meinen Eltern nach Palästina. Ich habe meinen Vater nie wieder gesehen. Er erfuhr zwar von der Geburt meines Sohnes, der 1945 geboren wurde, aber er verstarb zwei Jahre später, 1947.

Drei Wochen nach Ausbruch des Krieges musste man seine Wohnung verdunkeln, und es wurden Lebensmittelkarten eingeführt. Die Juden bekamen natürlich weniger. Außerdem durften wir nur zu bestimmten Zeiten einkaufen gehen und nicht den ganzen Tag über. Mein Mann sagte: 'In Ungarn kann uns nichts passieren.' Also packten wir unsere Koffer und fuhren nach Budapest, denn mein Mann behauptete, dass uns in Budapest nie etwas passieren würde. Sicherheitshalber hatte ich aber für meine Kinder Einreisegenehmigungen nach Palästina organisiert.

Die Juden in Ungarn lebten immer noch ein gutes Leben. Damals lebten viele Juden in Budapest, ich glaube etwa 200.000. 'Bleibt in Ungarn', schrieben meine Eltern. Damals konnte man nur nach Palästina einreisen, wenn man eine Bescheinigung hatte, die besagte, dass der Beruf dort benötigt wurde. Und zu dieser Bescheinigung gehörte ein Kapital von soundso vielen tausend britischen Pfund. Meine Eltern schrieben uns, dass das Kapital für uns in Holland hinterlegt werden würde. Doch zu unserem Unglück fielen die Deutschen in Holland ein.

Rosa Rosenstein mit ihren Töchtern

1935

Eines Tages verhafteten sie mich und brachten mich und meine Kinder in ein Internierungslager. Mein Mann wurde von uns getrennt und kam in das Männerlager. Ich hatte noch die Ausreisegenehmigung für meine Kinder. Ich schrieb immer Briefe an das Rote Kreuz - über meinen Cousin in Argentinien, der sie weiterleitete - und so blieben wir mit meiner Familie in Palästina in Kontakt. Nach unserer Verhaftung schrieb mein Schwager aus Palästina: 'Schickt die Kinder, bitte schickt die Kinder. Wir werden sie aufziehen, als ob sie unsere eigenen wären.' Die jüdische Gemeinde in Budapest hat das alles organisiert. Lilly wollte nicht gehen; sie war acht, und Bessy war elf, als sie gingen. Am Ende stimmten sie zu, aber die Jüngere erzählte mir, dass ihre Schwester sie so lange geschlagen hatte, bis sie 'ja' sagte. Auf diese Weise hat sie ihr Leben gerettet. 

Ich durfte die Kinder vom Internierungslager bis zum Bahnhof in Budapest begleiten. Mein Mann, der im Internierungslager für Männer war, durfte sie nur bis zur Bushaltestelle bringen. Dort verabschiedete er sich von ihnen. Und das war das letzte Mal, dass sie ihren Vater sahen. Lilly stand am Fenster und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie fuhren mit dem Zug nach Bulgarien, setzten dann mit dem Schiff in die Türkei über und fuhren von dort mit dem Bus über Syrien nach Palästina. Meine Eltern nahmen sie in Palästina in Empfang.

In der Todesanzeige meines Mannes hieß es: Herzstillstand. Später wurde mir gesagt, er sei an Fleckfieber gestorben. Er wurde nach Russland geschickt, nach Kiew,[8] zum Arbeitsdienst. Sie mussten graben und nach Minen suchen. Ich durfte das Internierungslager verlassen und hatte noch die kleine Wohnung. Ich arbeitete bei einem Rechtsanwalt, musste mich aber jeden achten Tag bei der Polizei melden. Ich war die Witwe eines Arbeiters. Ich erhielt eine Witwenbescheinigung.

Dann kam das Jahr 1944. Adolf Eichmann kam nach Budapest, um 'Ordnung' zu schaffen.[9] An dieses Datum erinnere ich mich bis heute. Als ich aus der Straßenbahn stieg, wurde ich verhaftet. Ich wurde in ein Haus gebracht, das mit etwa 400 Menschen gefüllt war, alles Juden. Wir wurden dort eingesperrt, und niemand wusste, was passieren würde. Dann wurden wir in ein Transportfahrzeug gepfercht und wir fuhren und fuhren. Es gab keine Fenster, also wussten wir nicht, wohin wir fuhren. Plötzlich wurden wir ausgeladen und fanden uns in einem riesigen Hof wieder. Ich schaute mich um und sah viele gefangene Männer auf der anderen Seite. 

Plötzlich wurden wir in das Gebäude gerufen, die Frauen getrennt. Dort saß ein Offizier, der unsere Namen aufschrieb. Er schaute mich an, dann schaute er auf die Todesanzeige, dann schaute er mich wieder an und sagte auf Deutsch: 'Sie sind Israelitin?' Ich sagte: 'Ja. Dann wurden wir in einen riesigen Raum gebracht und dort waren wir wieder etwa 400 Frauen. Wir wurden eingesperrt, und in dieser Nacht war Budapest bereits bombardiert worden: tagsüber von den Amerikanern und Briten, nachts von den Russen. Die Frauen beteten, dass die nächste Bombe uns treffen möge. Denn wir erwarteten das Schlimmste, das Allerschlimmste. Wir waren vier Tage lang da drin. Die Männer wurden deportiert, das wussten wir. Aber sie wussten nicht, wohin sie die 400 Frauen bringen sollten. Sie hatten keine Züge. Das war unser großes Glück. Als sie uns entließen, mussten wir ihnen unsere Adressen geben, und ich hatte Angst, in mein Zimmer zurückzukehren. Aber wir hatten eine Wiener Freundin in Budapest, eine Witwe. Als sie mir die Tür öffnete, traute sie ihren Augen nicht: 'Resi, du lebst?’ Dort traf ich meinen zukünftigen Mann, Alfred Rosenstein, den ich aus dem Lager kannte. Er war aus Wien und so charmant; die Frauen waren verrückt nach ihm. 

Rosa und Alfred Rosenstein mit ihrem Sohn

1946

Wir hatten einen gemeinsamen Bekannten, der ein paar Monate zuvor falsche Papiere gekauft hatte. Er hat den Hausmeister einer Villa bestochen und wir haben uns dann zu neunt in einem Zimmer dieser Villa vor den Massendeportationen versteckt. Am Ende, als alles vorbei war, als wir schon auf der Straße tanzten, tauchten plötzlich 60 Juden aus der Villa nebenan auf - der Hausmeister hatte sie gegen Geld und Schmuck in Kohlenkellern und so weiter versteckt. Deshalb habe ich gesagt, in Budapest kann man alles bekommen, wenn man Geld hat.

Ich wusste, dass ich schwanger war, und ich sagte mir: Entweder das Kind kommt mit mir um, oder ich tue etwas. Und Alfred sagte: 'Du wirst nichts tun. Wenn wir überleben, werden wir ein Kind bekommen.' Aber ich bin trotzdem zu dem Arzt im Ghetto gegangen.[10] Er sagte mir: 'Ich werde nichts tun! Willst du an einer Sepsis sterben?' Wissen Sie, er hatte keine Instrumente, gar nichts. Unser Sohn Georg wurde am 27. Juni 1945 in Budapest geboren. 

Eines Tages lagen wir in unseren Mänteln im Zimmer - es gab keine Fenster mehr - und plötzlich hörte ich eine Stimme durch ein Megaphon: 'Hier ist die russische Armee. Leute von Budapest, wartet! Wir werden euch befreien.' Das sagten sie auf Deutsch, Ungarisch und Russisch. Und so warteten wir. Eines schönen Tages, es war ein Sonntag, stand ich am Fenster, es war totenstill und ich sah einen Russen mit Pelzmütze und Maschinengewehr durch den Garten auf das Haus zukommen. Ich sagte: 'Hier ist ein Russe.' Meine Freundin sagte: 'Das erste russische Pferd, das ich sehe, küsse ich auf den Hintern.’

Die Nachkriegszeit

Nach der Befreiung blieb ich zunächst in Ungarn. Ich wollte nicht nach Österreich, ich wollte zu meinen Kindern und Eltern nach Israel ziehen. Aber mein Mann sagte, dass er keinen richtigen Beruf habe, um nach Israel zu gehen. Er war Geschäftsmann und arbeitete für seinen Bruder, der eine große Ölfirma besaß. Er arbeitete als Verkäufer. Das war nicht der richtige Beruf für Israel. Er wollte nach Österreich gehen, um einen Antrag auf Entschädigungszahlungen zu stellen und das Geld zu bekommen, damit wir nach Israel einwandern konnten.

Vor dem Krieg hatten die Schwestern meines Mannes in Wien ein Restaurant namens 'Grill am Peter', das arisiert wurde.[11] Mein Mann wollte dann einen Antrag auf Entschädigungszahlung stellen, um das Vermögen zurückzubekommen. Das Lokal gehörte eigentlich seiner ältesten Schwester, die im Holocaust umgekommen ist. Mein Mann hat geklagt - damals gab es noch Restitutionsgerichte. Und da gab es immer nur zwei Richter. Die Arierin, die das Restaurant übernommen hatte, war gestorben. Ihr Sohn hat es weitergeführt. Bei der ersten Verhandlung wurden meinem Mann 35.000 Schilling als Entschädigung angeboten. Unser Anwalt war Dr. Pik, der später Präsident der jüdischen Gemeinde werden sollte. Er war mit meinem Mann zur Schule gegangen. Bei der zweiten Anhörung bot man ihm 65.000 Schilling an. Dann sagte der Anwalt zu meinem Mann: 'Wenn sie schon bereit sind, 65.000,- zu zahlen, dann wird es noch mehr sein. Bei der dritten Anhörung waren drei Richter anwesend. Sehen Sie, mein Mann wollte nicht das Geld, er wollte das Restaurant, damit wir uns ein Leben aufbauen können. Der dritte Richter meinte, es sei nicht gerecht, dem jungen Mann die Lebensgrundlage zu entziehen, da er nichts mit der Arisierung zu tun habe. Das war damals schon die Einstellung. Der junge Mann bekam das Restaurant, weil sich die drei Richter einig waren. Mein Mann hat keinen Cent für das Restaurant bekommen.

Ich bin 1949 zum ersten Mal mit meinem Sohn nach Israel gefahren. Meine Tochter Bessy ging zur israelischen Armee, später arbeitete sie bei der Stadtverwaltung und kümmerte sich um ältere Menschen. Lilly kam für ein Jahr zu mir nach Wien. Sie war in Israel zur Schule gegangen, aber sie konnte natürlich Deutsch sprechen. Meine Mutter hat nie Hebräisch gelernt. Meinen Vater habe ich nie wieder gesehen, das war schrecklich. Mein Sohn ist nach der Matura nach Israel gezogen. Das war kurz nach dem Tod meines Mannes im Jahr 1961. 

Rosa in Israel mit ihren Enkelkindern

1979

Ich mochte die Österreicher nicht. Ich habe sie immer als Nazis betrachtet. Einmal, Anfang der 1950er Jahre, war ich für zwei Monate in Israel. Als ich nach Wien zurückkam und zu meinem Bäcker ging, um Brot zu kaufen, fragte mich die Bäckersfrau: 'Frau Rosenstein, wo waren Sie denn so lange? Ich sagte: 'Ich war in Israel.' Und sie sah mich an und sagte: ‘Sie sind Jüdin? Sie sehen nicht jüdisch aus!' Worauf ich sagte: 'Warum, Frau Schubert? Weil ich keine Hörner auf meinem Kopf habe?' Und sie sagte: 'Um Himmels willen, nein, so habe ich es nicht gemeint. Wir hatten einen Lieferanten, einen Juden, der Mehl geliefert hat, und der war auch ein anständiger Mensch.’ Das war zu Beginn der 1950er Jahre. Daran hat sich im Laufe der Jahre nicht viel geändert. Auch Haider und Stadler geben uns genügend Gelegenheit, darüber nachzudenken.[12] Auch wenn man es vergessen will, man kann es nicht. Man wird immer wieder damit konfrontiert.

Rosa Rosenstein in ihrer Wiener Wohnung, 1990er

In Deutschland habe ich keinen Antisemitismus gespürt. Ich lachte und scherzte mit den christlichen Arbeitern in der Werkstatt meines Vaters herum. Viele von ihnen wussten auch, wann unsere Feiertage waren. Ich bin mit meiner Schwester nach Berlin gefahren, damals war es noch in Ost- und West-Berlin geteilt.[13] Wir hatten einen Jugendfreund, einen Nachbarn, Sali, der schon im Westen war, und wir wollten nach Ostberlin, in unsere Heimat, fahren. Und er sagte: 'Um Gottes willen, geht nicht, wer weiß, was euch dort passiert, ihr könntet in Schwierigkeiten geraten'. Und er hat es uns ausgeredet. Später war ich mit meiner Enkelin in Ost-Berlin. Und ich bin nicht in das Haus gegangen, in dem wir früher gewohnt haben, ich konnte einfach nicht.

  • [1]Rosa Rosenstein meint vermutlich die internationale Bestätigung der Grenzen der Zweiten Polnischen Republik (1918-1939), die erst 1923 abgeschlossen war.
  • [2]Die Templiner Straße war eine Straße in der Nähe des Scheunenviertels, das sich heute im Zentrum Berlins befindet. In diesem Viertel lebten vor allem Jüdinnen und Juden, die Anfang der 1920er Jahre aus wirtschaftlicher und sozialer Not heraus aus Osteuropa nach Berlin gekommen waren.
  • [3]Das jüdische Neujahrsfest, das im Herbst gefeiert wird.
  • [4]Die Klosterstraße war eine Straße unweit des Scheunenviertels, das heute im Zentrum Berlins liegt. In diesem Viertel lebten vor allem Juden, von denen die meisten Anfang der 1920er Jahre aus wirtschaftlicher und sozialer Not aus Osteuropa nach Berlin gekommen waren. Neukölln befindet sich im Süden Berlins und war nicht Teil des Scheunenviertels.
  • [5]nicht-koscher.
  • [6]Antijüdische Ausschreitungen der Nazis in der Nacht des 10. November 1938. Offizieller Auslöser war die Ermordung von Ernst vom Rath, dem Dritten Sekretär der deutschen Botschaft in Paris, zwei Tage zuvor durch den polnischen Juden Herschel Grynszpan. Nach der von den Deutschen erzeugten Atmosphäre der Spannung kam es in ganz Deutschland und Österreich zu massiven Angriffen auf Jüdinnen und Juden, jüdisches Eigentum und Synagogen. Geschäfte wurden zerstört, Lagerhäuser, Wohnungen und Synagogen in Brand gesteckt oder anderweitig zerstört. Viele Fensterscheiben wurden eingeschlagen und die Aktion wurde als 'Kristallnacht' bekannt. Mindestens 30 000 Juden wurden verhaftet und in die Konzentrationslager in Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau gebracht. Obwohl die deutsche Regierung versuchte, die Aktion als spontanen Protest und Bestrafung der arischen, d. h. nichtjüdischen Bevölkerung darzustellen, wurde sie in Wirklichkeit auf Befehl der NS-Führung durchgeführt.
  • [7]Rosa Rosenstein bezieht sich hier vermutlich auf die sogenannte 'Polenaktion', die Deportation von etwa 17.000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsbürgerschaft aus dem Deutschen Reich zur polnischen Grenze Ende Oktober 1938. Zu den Ausgewiesenen zählte die Familie Grynszpan aus Hannover, deren Sohn Herschel in Paris lebte. Als Herschel vom Schicksal seiner Familie erfuhr, verübte er aus Protest gegen die Deportation am 7. November 1938 ein Attentat an der deutschen Botschaft in Paris, das den Tod des Botschaftssekretärs Ernst vom Rath zur Folge hatte. Dies nutzten die Nationalsozialist*innen als Vorwand für die darauffolgenden Novemberpogrome. Nach den Novemberpogromen - der Zeitpunkt, den Rosa für die Deportation ihres Vaters benennt - wurden tausende jüdische Männer aus Berlin nach Sachsenhausen deportiert, nicht jedoch nach Polen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Rosa den Zeitpunkt der 'Polenaktion' durcheinanderbringt.
  • [8]Wie so oft verwendet auch Rosa Rosenstein den Begriff Russland, wenn sie von der Sowjetunion spricht. In Wirklichkeit gehörte Kiew damals nicht zu Russland, sondern zur Sowjetunion und ist als Kyiv als die Hauptstadt der Ukraine bekannt.
  • [9]Eichmann, Adolf (1906-1962). Nazi-Kriegsverbrecher, einer der Organisatoren des Massengenozids an den europäischen Jüdinnen und Juden. Nach dem Krieg war er in einem amerikanischen Lager inhaftiert, ihm gelang die Flucht und er versteckte sich in Deutschland, Italien und Argentinien. Im Jahr 1960 wurde er vom israelischen Geheimdienst in Buenos Aires gefasst. Nach einem mehrere Monate dauernden Prozess wurde er in Israel zum Tode verurteilt und hingerichtet. Der Prozess gegen Eichmann löste eine große Diskussion über die Ursachen und die Durchführung der Shoah aus. Am 19. März 1944 wurde Ungarn von deutschen Truppen besetzt.
  • [10]Rosa Rosenstein versteckte sich außerhalb das Ghettos, besuchte zu diesem Anlass aber einen jüdischen Arzt im Budapester Ghetto.
  • [11]"Arisierung" bezieht sich auf die Übertragung von jüdischem Eigentum an Nicht-Juden im nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1933 und 1945. Sie zielte darauf ab, Wirtschaftsunternehmen in jüdischem Besitz in "arisches", d. h. nicht-jüdisches Eigentum zu überführen.
  • [12] Österreichische Politiker der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ).
  • [13]Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 wurden Deutschland und Berlin selbst in vier Sektoren aufgeteilt, die jeweils von einem der alliierten Länder verwaltet wurden. Der Osten Berlins wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht verwaltet. Nach dem Ende der Besatzung, zwischen 1949 und 1990, wurde die Stadt Berlin in zwei Teile geteilt, wobei der östliche Teil die Hauptstadt der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war und immer noch eng mit der Sowjetunion verbunden war, während der westliche Teil ein Teil der Bundesrepublik Deutschland war. Die Teilung wurde durch eine Mauer markiert, die insbesondere Ostdeutsche aufgrund eines allgemeinen Ausreiseverbots aus der DDR nicht überschreiten durften. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall des "Eisernen Vorhangs" in Europa 1989/90 wurden Ost- und Westdeutschland zu dem Staat vereinigt, der heute Bundesrepublik Deutschland heißt.

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